Sonntag, 16. August 2020

Der Wiener Oud-Spieler - Orwa Saleh Teil 2

 

Orwa Saleh erinnert sich noch gut an seine erste Begegnung mit Basma Jabr.   

“So wie ich selbst ein paar Jahre davor suchte sie Musiker*innen, mit denen sie hier arbeiten konnte, und sie rief mich an. Wir kannten uns nicht persönlich, hatten aber viele gemeinsame Freunde. Ich war gerade auf dem Weg nach Wien, weil ich von dort mit Christoph Cech zu Konzerten in den Iran fliegen sollte. Ich sagte ihr: “Okay, wir können uns unter einer Bedingung treffen: Ich komme etwas früher nach Wien und esse bei dir. Ich vermisse nämlich gutes syrisches Essen…” Sie fragte nur: “Was willst du essen?” Ich weiß nicht mehr, was sie kochte, aber es war etwas sehr Schwieriges, so schwierig wie Gulasch. Ich traf dann ihre Familie und wir sprachen miteinander. Als ich aus dem Iran zurückkam lud ich Basma ein, mit uns in Innsbruck und Waidhofen/Thaya zu singen. Das war 2015, und 2016 zog ich schließlich nach Wien.”

Samstag, 8. August 2020

Der Wiener Oud-Spieler - Orwa Saleh Teil 1



“Macht das einen Sinn, was ich erzähle?” 

Stille.

Der Oud-Virtuose Orwa Saleh hat mir gerade erzählt, wie er 2012 mit seinem Sohn an der Hand durch das riesige Panoramafenster des Flughafens von Damaskus nach draußen blickte, während seine Frau erschöpft auf dem Sessel daneben saß. Am Horizont stiegen aus der Richtung seiner 30 km entfernten Heimatstadt Rauchsäulen auf, vor dem Gebäude warteten Flugzeuge auf die Flugerlaubnis. Auch das Flugzeug, das den Musiker mit seiner kleinen Familie über Aleppo nach Athen bringen sollte, hätte zu Mittag abheben sollen, doch der Flug war wieder und wieder verschoben worden, weil nicht klar war, ob Passagierflugzeuge noch in Europa landen durften. Es war der letzte mögliche Flug nach Europa, die EU hatte ihre Sanktionen gegen das Regime des Präsidenten Baschar al-Assad verschärft und alle anderen Fluglinien hatten schon ihre Flüge gestrichen.
  
“Ich erinnere mich, ich hatte meinen Sohn Jude bei mir, und ein Gedanke ließ mich nicht los: “Wird es das letzte Mal sein? Wird das das letzte Bild meiner Heimat in meinem Kopf bleiben?” Diese Furcht trug ich immer mit mir.  Als ich das Stück “Raheel” schrieb, weinte ich. Es war die erste Melodie, die ich in Österreich komponierte, noch vor “Refugee”. Als mein Freund Basel Rajoub kam, um es mit mir aufzunehmen, erzählte ich ihm von diesem Bild und erklärte ihm: “Das ist es, was ich fühle.” So spielte er am Saxophon das Intro zu “Raheel”, und so nahmen wir das Stück 2014 für die CD mit meinem Projekt “Ruh” auf”.  

Montag, 8. Juni 2020

“Nur in eine Kamera zu singen würde mich auf die Dauer verrückt machen.” Claudia Heidegger im Portrait


Sunday Sounds, You Vienna 2018

“Nur in eine Kamera zu singen würde mich auf die Dauer verrückt machen.” Claudia Heidegger im Portrait

“Man muss nicht unbedingt wissen, wie genau der Weg ausschaut, aber man muss das Gefühl haben, dass das, was man macht, richtig ist, dass es einen Wert hat. Dann zieht man meistens auch die richtigen Personen und die richtigen Situationen an. Diese Erfahrung habe ich immer wieder gemacht” -  kurze Pause, dann ein Lachen  - “und meistens glaube ich sogar selbst daran!”

Freitag, 29. Mai 2020

"Ich will mich nicht limitieren." - Mahan Mirarab im Porträt

Cafe 7Stern 2018

Mahan Mirarab war der erste, der mich im Kulturraum Neruda bei der Begrüßung umarmte. Ich war das damals nicht gewohnt und etwas überrascht, schließlich kannten wir uns kaum, aber ich fühlte mich dadurch angenommen und nicht mehr fremd, und das machte einen großen Unterschied aus. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, kommt mir der Gedanke, dass diese Erinnerung nicht nur den Menschen, sondern auch den Musiker Mahan Mirarab gut beschreibt, denn er ist jemand, der alle durch seine Musik mit offenen Armen willkommen heißt. Das spüren nicht nur die Zuhörer*innen, sondern auch die vielen unterschiedlichen Musiker*innen, mit denen er immer wieder die Bühne teilt. Er kann im Rampenlicht stehen, er besitzt aber auch die Gabe andere scheinen zu lassen und freut sich über die vielen Impulse, die er dadurch erhält.

Dienstag, 19. Mai 2020

"Für mich ist jedes Konzert heilig!" - Golnar Shahyar im Gespräch

Golnar Shahyar Sargfabrik 2019

Golnar Shahyars Konzerte sind ein Versprechen.  
“Give me your energy!
I will transform it with all my desires, frustrations, anger and compassion and will give it back to you.” (from “The Mission” by Golnar Shahyar)

Golnar Shahyars Konzerte sind ein Versprechen, 
das sie einlöst, egal, ob sie mit ihrem Partner Mahan Mirarab und Amir Wahba als “Golnar & Mahan” auftritt, oder in Formationen wie Gabbeh, Sormeh oder dem Vienna World Orchestra. Oder seit 2017 auch bei Soloauftritten: 2019 spielte sie beim Popfest in Wien ein Soloset vor einer vollen Karlskirche. Zuletzt konnte man sie mit ihrem Song “I am the Earth” bei “abgesagt/angesagt” auf W24 oder als eine der Künstler*innen des Seda Collectivs online sehen.

Golnar Shahyars Konzerte sind ein Versprechen, 
dass sie mit all ihrer Kunst, mit all ihrem Wesen und mit ihrem ganzen Herzen versuchen wird, uns zu berühren, die Trennung zwischen uns aufzuheben und  eine Verbindung zu schaffen. 

Bei deinen Konzerten habe ich das Gefühl, dass zwischen dir und dem Publikum keine Barriere besteht. Hast du keine Angst, dich auf der Bühne so zu öffnen, dich so verletzlich zu zeigen? 

Warum sollte ich Angst haben? Auf der Bühne kann ich endlich ich selbst sein. Auf der Bühne fühle ich mich wohl, da fühle ich, dass sehr viele Seiten von Golnar ungefiltert rauskommen. Musik ist so ein starkes Mittel um diese Lebensenergie, die ich in mir fühle, mit Menschen in einer produktiven und schönen Art zu teilen. Also warum sollte ich Angst haben? Je länger ich schon auf der Bühne stehe, desto mehr bemerke ich, dass es auf viel mehr ankommt als auf Perfektion, die jeder Musiker zu erreichen versucht. Es geht um die Verbindung, die man mit sich, mit dem Publikum und mit den anderen Musiker*innen auf der Bühne findet, das ist viel, viel wertvoller als das, was man normalerweise in der Schule lernt. 

Für mich ist jedes Konzert einfach heilig, und ich gebe alles, 120 Prozent. Ich habe eine Verantwortung gegenüber meiner Kunst und gegenüber meinem Publikum, wenn es für mich da ist und für die Musik.

Golnar Shahyar Cafe Supersense 2017

Wie hast du zur Musik gefunden?

Meine Eltern haben mir Solfège und Klavierunterricht ermöglicht, aber ich hatte damals keine Vorbilder im Iran. Musik war nicht wirklich offen, meine Familie hat keine Livekonzerte besucht, und Frauen wurden sowieso zur Seite gedrängt. Erst in Kanada habe ich langsam gespürt, was Musik mit mir macht. Musik hat etwas mit meinem Körper gemacht, das ich früher nicht gespürt habe. Auch die Erfahrung, dass man Musik in einer Gesellschaft, in einer Gruppe machen kann, war sehr stark. Diese Form der Kommunikation war überwältigend für mich, und langsam habe ich den Mut gesammelt und akzeptiert, dass Musik mein Weg werden möchte.

Das klingt so, als ob du gar keine Wahl gehabt hättest!

Nein, das war keine Wahl, das war so klar für mich! Ich erinnere mich an das letzte Jahr meines Biologiestudiums, ich hatte nur mehr zwei Kurse bis zum Master, aber  ich war mit meinem Kopf woanders. Ich war bewegt durch die Musik!  Dann sah ich Azam Ali mit Nyaz. Es gab nicht viele Bands, die iranische Elemente verwendeten - ich sage nicht iranische Musik, weil iranische Musik extrem komplex und divers ist -  aber zumindest iranische Klänge,  noch dazu auf Farsi und von einer Frau gesungen! Sie interpretierte alte iranische Lieder, aber in modernem Sound. Ich war derart  fasziniert, dass ich zu dem Elektromusiker ging und sagte: Das werde ich auch in ein paar Jahren machen!

Daraufhin hast du dich entschlossen, nach Wien zu kommen?

Ich wollte damals klassische Musik lernen, und Wien als Stadt der klassischen Musik klang nach perfekter Wahl. Meine Eltern waren auch dort, und ich hatte niemand mehr in Kanada, mein Studium war vorbei, und ich wollte mit Biologie nicht weitermachen. Das war einfach der optimale Zeitpunkt für mich.
Golnar & Mahan Szene Wien 2018

Der Anfang war jedoch nicht einfach, und die Künstlerin zog auch andere Möglichkeiten in Betracht.

Ich war damals sehr viel mit Hippies und Alternativen unterwegs, und für die ersten 6 Monate wollte ich einfach weiterreisen nach Indien, doch mein Vater sagte zu mir: ”Kind - warte! Was möchtest du machen in deinem Leben? Überleg´s dir, okay?” Daraufhin habe ich die Entscheidung getroffen, dass ich Musik studieren möchte. Ich war damals 23 Jahre alt, nicht 16 oder 17, und ich wusste, wenn ich hier bleiben will, muss ich die deutsche Sprache lernen, es geht nicht anders. Es ist so schwer!  Aber ich habe sie langsam gelernt, und bis jetzt lerne ich immer noch.

In Wien hast du auch deinen Partner Mahan Mirarab gefunden und hast begonnen, mit ihm Musik zu machen.

Mahan ist ein großartiger Musiker, und das sage ich nicht nur, weil ich mit ihm zusammen bin! Ich glaube an seine Fähigkeit, an seine Arbeitsmoral und an das, was er macht. Er ist introvertierter als ich, aber er kann auch vorne stehen, und es ist schön, ihn dabei zu sehen: Bei der Präsentation seiner CD im Theater Akzent, auch bei den Worldmusicsessions im Kulturraum Neruda. Ich finde wirklich, dass er eine große Leistung erbracht hat.  
Gabbeh - Manu Mayr, Golnar Shahyar, Mona Matbou Riah Konzerthaus 2019

Woher nimmst du die Inspiration für deine Songs? In vielen deiner Songs verwendest du sehr starke Bilder aus der Natur, in “Derakht” zum Beispiel (Der Baum) oder “I am the Earth”.

Natur ist tatsächlich eine große Inspirationsquelle für mich, wir sind ein Teil der Natur, wir sind nicht getrennt von ihr. Leider komme ich nicht so oft aus der Stadt heraus, weil ich hier arbeiten muss. Aber ich bekomme immer noch sehr viele Impulse aus der Natur, das Gefühl, wenn ich auf einem Berg bin oder dem Ozean gegenüber stehe.

Aber eine andere wichtige Inspiration für mich sind Begegnungen mit Menschen, die mich tief berühren. Deswegen lebe ich wirklich, es gibt nichts, was mir so viel Energie gibt, wie wenn ich mich auf ganz tiefer Ebene mit Menschen verbinde, wenn ich sie emotional tief verstehe. Diese emotionale Verbindung ist es, warum ich lebe und warum ich arbeite. 

Ich bin auch sehr berührt von Geschichten, die normalerweise keinen Platz haben, Geschichten über Entwicklung, über Widerstand. Das ist wirklich, wirklich inspirierend. Was und wie man in der Mainstreamkultur denkt, ist nicht immer die ganze Geschichte, die Leute erleben. Es gibt sehr viele Menschen, die sich nicht repräsentiert fühlen. Unsere Gesellschaft ist sehr hierarchisch, und diese Hierarchie bestimmt, wer gehört wird und wer nicht. Als eine Frau, als jemand, der Musik macht, als Immigrantin bin ich selbst eine Minderheit innerhalb einer Minderheit. Ich möchte das nicht sagen, aber es ist leider eine Tatsache. Ich fühle mich nicht getrennt, aber ich wurde getrennt, und das ist nicht nur meine Geschichte, das ist die Geschichte meiner Freundinnen und Freunde. Ich habe die Chance, dass ich meine Geschichte jetzt einfach hinausschreien kann, aber sehr viele haben diese Chance nicht.
Golnar Shahyar Lange Nacht der Kirchen 2019

Musik ist also mehr als Unterhaltung für dich?

Musik  war nie Unterhaltung für mich! Ich hatte nie das Bild in meinem Kopf, ein Superstar zu werden, nie. Ich hatte keine Ahnung, was es bedeutet, eine Musikerin zu sein, ich fühlte einfach, dass ich Musik machen muss, weil sie mich so berührte,  und ich wollte dieses Gefühl einfach mit allen teilen. Das wollte ich machen. Gespürt habe ich es immer schon, aber durch die Musik weiß  ich jetzt, dass richtiges Empowerment nicht darin liegt, den einzelnen zu empowern, sondern die Community.

Bereitest du dich auf deine Auftritte vor? 

Wenn man auf die Bühne geht, ist der Körper in einem komplett anderen Zustand als im Ruhezustand, und es kostet viel Energie. So funktioniert das Nervensystem, wenn es in Gefahr ist, diese “Kampf oder Flucht” Reaktion. Das alleine ist anstrengend, allerdings auch notwendig, weil es sehr viele Potentiale im Körper und im Gehirn eröffnet und aufweckt. 

Der Prozess fängt schon Tage vorher an, wenn ich weiß, dass ich auf die Bühne gehen muss. Der Körper bereitet sich darauf vor, man spürt das, wenn man wirklich sensibel ist. Man denkt darüber nach, bereitet sich mit Übungen und Proben vor. Am Tag des Konzertes steigt der Adrenalinspiegel. Wenn ich an einem Tag ein Konzert spielen muss, kann ich normalerweise nichts anderes machen, ich brauche meine ganze Konzentration, ich muss schauen, dass es im Körper ruhig bleibt. Stell dir vor, du musst die feinsten Sachen machen, während dein Körper im Panikmodus ist. Es ist eine enorme Fähigkeit, wenn man gelernt hat, den Stress zu kontrollieren, mit den Emotionen umzugehen. Das habe ich natürlich im Lauf der Zeit gelernt. 

Ich hatte nie Angst zu singen. In meinem Leben habe ich den Kontakt zu meiner Stimme erhalten. Hast du gesehen, wie Kinder schreien? Sie haben keine Angst, ihre Stimme zu nutzen, und irgendwie habe ich diese Fähigkeit nicht verloren, und es war nicht schwierig für mich, einfach auf die Bühne zu gehen und mich durch meine Stimme auszudrücken. Das Selbstvertrauen, die Selbstsicherheit habe ich über viele Jahre entwickelt, und es geht immer noch weiter.
Mahan Mirarab, Wolfgang Puschnig, Golnar Shahyar, Amir Wahba Vindobona 2018

Seit 2017 trittst du auch immer wieder solo auf. Hast du das Gefühl, dass du solo etwas machen kannst, was in der Gruppe nicht möglich ist?

Gitarre und Klavier zu spielen ist ein Kampf für mich, eine Herausforderung. Gesang ist für mich nicht schwer, aber auf den Instrumenten bin ich nicht so weit fortgeschritten wie mit meiner Stimme. Mahan Mirarab zum Beispiel ist sehr weit, und der Arme muss immer warten, bis ich das hinkriege. Natürlich ist es eine Anpassung, wir versuchen es langsam, sehr langsam. Aber gleichzeitig ist es wichtig, dass ich meine Sologeschichten mache, weil dann fühle ich mich frei und kann genau das machen, was ich machen möchte, und meine Message ist ganz direkt. Es hat einen anderen Charakter, wenn man alleine spielt. Wenn man in einer Gruppe spielt, ist es auch fantastisch. Ich brauche auf jeden Fall beides.” 

Für deine Solokonzerte hast du begonnen, Songs in englischer Sprache zu schreiben.

Ich arbeite leider nicht im Iran, und sehr oft versteht mein Publikum nicht, was ich sage, wenn ich auf Farsi singe. Was ich sage, ist aber ein wichtiger Teil jeder Komposition, nicht immer, aber sehr oft. Um die Kommunikation zu erleichtern, möchte ich gerne mehr auf Englisch schreiben. Ich habe aber genug Songs in meiner Muttersprache produziert, und ich werde auch auf Farsi weiterschreiben. Gefühlsmäßig bleibt die Muttersprache immer die Muttersprache, ich kann mich darin viel direkter ausdrücken. Aber die Sprache der Musik kann ich am besten!
Mahan Mirarab, Golnar Shahyar, Amir Wahba - Eröffnung Weltmuseum 2017

Ich habe dich im Lauf der Jahre schon auf einigen Bühnen gesehen, du spielst im Café Supersense genauso wie vor tausenden Zuschauer*innen bei der Eröffnung des Weltmuseums am Heldenplatz. Macht es für dich einen Unterschied, ob du vor einem großen oder einem kleinen Publikum spielst? 

Alles macht einen Unterschied. Es hängt davon ab, wie der Saal ist, wie der Sound ist, ob ich mich geschützt fühle, was für einen Musikstil man macht. Eine zarte Musik ist sehr schwierig auf einer großen Bühne für sehr viel Publikum. Daher mag ich kleinere Räume, ich mag die Intimität. Manchmal habe ich aber auch in kleinen Räumen Schwierigkeiten. Es hängt davon ab, wie ich mich fühle, wie ich vom Veranstalter empfangen werde. Es ist wichtig,  wie willkommen ich mich fühle und wie willkommen ich glaube,  dass meine Musik beim Publikum ist und auch wie es mir mit meinen Kolleg*innen auf der Bühne geht.  Das spielt alles eine Rolle.  Wenn das alles passt ist es eigentlich egal, ob ich vor großem oder kleinem Publikum spiele. Charakter und  Atmosphäre sind unterschiedlich, aber beides kann schön sein. 

Der Energieaustausch, der auf der Bühne passiert, er transformiert alles, bringt alles in einen Fluss, und das alleine gibt so viel Energie. Deswegen haben wir das so lange durchgehalten. Aber auf die Dauer ist das nicht genug, weil - ehrlich gesagt - ich nach 10 Jahren nicht mehr so arbeiten kann. Die Arbeitsbedingungen bleiben gleich oder werden sogar schlechter. Darum habe ich mir gedacht, okay, ich kann einfach so nicht weiterarbeiten, ich fange an darüber zu reden, und vielleicht kann man etwas verbessern. Das mache ich auch aus Frust, das kann man wirklich sagen.

Nach Beginn des Lockdowns verfasste Golnar Shahyar einen offenen Brief an die Musik- und Kulturjournalist*innen des Landes, in dem sie u.a. die Nichtbeachtung der Arbeit von Kulturschaffenden mit unterschiedlichstem kulturellen Hintergrund in der österreichischen Medien- und Veranstaltungslandschaft anspricht und damit ein gewaltiges Echo in den sozialen Medien erzeugte. Offensichtlich spricht sie damit vielen Künstler*innen aus dem Herzen. 

Hast du mit einer derartigen Reaktion gerechnet?

Nein, das hat mich überrascht. Ich wollte halt einen Versuch machen, aber ich hätte nicht gedacht, dass das so viel Resonanz erzeugt bei den Musiker*innen. Offenbar spüren viele, egal woher sie kommen und was für eine Art Musik sie machen, dass eine Entwicklung, eine Verbesserung notwendig ist. Normalerweise sind Musiker körperlich und psychisch so gefordert, dass sie keine Zeit haben, sich mit diesen Dingen zu beschäftigen. Man bewältigt als freischaffende Musiker*in alleine die Arbeit eines ganzen Teams. Solche Dinge bleiben dann stehen. Aber jetzt hat jeder Zeit stehenzubleiben, nachzudenken und zu überlegen, nicht nur Musiker*innen, sondern sehr viele Menschen. Neben den wirklich tragischen Sachen, die viele Menschen erfahren in diese Zeit, sehe ich das als positiv.  
Golnar Shahyar Cafe Supersense 2017

Siehst du dich als Sprachrohr, als Sprecherin für deine Kolleg*innen?

Nein, man kann nicht der Repräsentant von Menschen sein, ohne dass man von ihnen dazu gewählt wird. Trotzdem  habe ich als Immigrantin, die die Musikszene und die Ausbildung in Österreich erlebt und überlebt hat, eine eigene Sicht der Dinge, und ich kann meine Perspektive in die Diskussion einbringen. Es ist eine Perspektive, die in unserer Musik- und Kulturpolitik in Österreich absolut fehlt. Ich glaube, dass ich vieles davon mit meinen Kolleg*innen teile, und ich hoffe, dass wir alle zusammenkommen, um unsere Bedürfnisse als Gemeinschaft verstehen zu können.

Ich bin dankbar, dass meine Arbeit Respekt von sehr vielen meiner Kolleg*innen erhält, das gibt mir Sichtbarkeit, die ich vor 5 Jahren noch nicht hatte. Doch die Frage ist, was mache ich damit? Ich kann durch diese Sichtbarkeit sehr viele Themen ansprechen. Ich denke, wenn die Leute, die sichtbar und dadurch in dieser Szene privilegiert sind, das erkennen und zur Emanzipation der Gemeinschaft nützen, dann werden wir sehr viel weiterbringen. 

Du hast diese Problematik bereits 2017 in einem Interview gemeinsam mit Mahan Mirarab angesprochen. Hat sich aus deiner Sicht seitdem gar nichts verändert?

Nein, eigentlich nicht. Damals habe ich erst begonnen, über diese Dinge nachzudenken. Wenn man anfängt zu arbeiten, weiß man nicht alles von Anfang an, man muss erst Erfahrungen sammeln. Man spürt viel, aber man weiß nicht, warum. Und dann überlegt man, man analysiert - ich habe das zumindest gemacht - und dann habe ich angefangen, darüber zu reden und zu diskutieren, und jetzt fange ich an, wirklich laut zu reden. Ich will versuchen, ein Netzwerk aufzubauen, denn wenn eine Person etwas sagt, bringt es nichts, erst wenn sehr viele etwas sagen, können wahre Änderungen beginnen.

Das Problem hat sehr viele Ebenen, über die man in der Community sprechen muss. Zum Beispiel, wie unterrepräsentiert extrem viele Kulturen im Bildungssystem, in der höheren Musikausbildung sind. Wie wenig Diversität es in Österreich in der Mainstreammusik gibt, im Radio, in den Medien, bei den Labels und Bookingagenturen. Nach 10 Jahren habe ich noch immer kein Label, das bereit ist, in meine Arbeit zu investieren. Nach 10 Jahren mache ich immer noch dieselbe Arbeit und ich sehe keine Verbesserung. Ich denke, das hat direkt mit meiner Art von Musik und meiner Identität zu tun, die ich als Person ausstrahle. Ich glaube nicht, dass es die Qualität der Musik ist, ich glaube an meine Musik, ich arbeite sehr professionell, ich bin gesellig, kann kommunizieren. Meiner Meinung nach hat unsere Art von Musik praktisch keine Szene in Österreich. In Wien existieren viele kleine Szenen nebeneinander, die sich kaum miteinander mischen. Den Enthusiasmus dafür sehe ich wenig, nicht, dass es ihn nicht gibt, aber ich sehe ihn wenig. Diese Trennung schmerzt mich sehr, sie raubt mir viel Energie.  
  
Ein anderes Beispiel sind die Arbeitsbedingungen. Freischaffende Künstler*innen und Musiker*innen brauchen sehr viel bessere Arbeitsbedingungen, mehr Unterstützung. Die Musikhäuser, die großen Festivals müssten sich überlegen, wie viel Prozent sie der freien Szene geben. Vielleicht müssen wir Labels gründen oder fördern, die Diversität wirklich unterstützen. Man muss viele Spezialist*innen aus anderen Feldern, aus politischer Arbeit, aus sozialer Arbeit einladen und mit ihnen diskutieren. Dann kann man ein Modell schaffen, das für viele Menschen eine Verbesserung bringt, nicht nur für wenige. 

Zuallererst müssen wir erkennen, dass das System, die Storyteller nicht wirklich divers sind, erst dann können wir erkennen, dass wir ein Problem haben. Und ein Problem haben wir, weil sehr viele Musiker*innen, sehr viele Kulturen einfach in der Mainstreamkultur nicht existieren.  

Wenn man diese Themen nur für eine kleine Gruppe von Künstler*innen bespricht und zu lösen versucht, dann ist das wieder nur eine Exklusion innerhalb einer Exklusion, das will ich nicht. Was ich bis jetzt in Österreich gesehen habe, hatten die meisten Versuche nicht wirklich echte Diversität zum Ziel, echtes Empowerment für marginalisierte Gruppen. Es waren immer noch exklusive Versuche. Ich habe bemerkt, dass das einzige, das mich mächtiger macht, ein Netzwerk ist, eine Community. Deswegen sehe ich diese Arbeit genauso wichtig wie das Musik machen. Ich hoffe, dass ich meine Ansicht kommunizieren kann und dass wir ein bisschen etwas ändern können.
Vienna World Orchestra Sargfabrik 2018
Jörg Mikula,José Ariel Ramírez Barrera, Mahan Mirarab, Golnar Shahyar,
Rina Kaçinari, Simon Schellnegger, Efe Turumtay, Paul Dangl

Warst du immer schon eine Kämpferin?

Ja, das begann schon in der Familie. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, der Konfrontation nicht fremd ist. Wir hatten keine Angst, uns die Meinung laut zu sagen, und vor allem von meinem Vater her waren wir immer politisch engagiert. Ja, ich bin eine Kämpferin. 

Obwohl ich noch immer in einer verletzlichen Position bin, geht es mir im Vergleich zu sehr vielen anderen mittlerweile gut. Ich habe Privilegien, die es mir erlauben, ein bisschen lauter zu sprechen. Mein Aufenthaltstitel ist nicht von der österreichischen Regierung abhängig, ich kann mich in der Welt frei bewegen, und wenn ich nicht arbeite, werde ich zumindest für ein paar Monate nicht auf der Straße leben müssen. Und ich habe ein Talent, meine Musik. Die Frage ist aber, wie ich diese Privilegien nutze. Ich kenne sehr viele, die nutzen sie nicht. Ich nutze meine Position, weil ich so viel gelitten habe,  weil ich gesehen habe, wie alleine Menschen sind, die frei denken und für die Community arbeiten. Ich habe mich immer alleine gefühlt, ich bin eine Frau, die in ihrem eigenen Land nicht arbeiten kann, meine Arbeit und meine Identität wurden nicht unterstützt.  Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man nicht  man selbst sein kann, wenn man keine Stimme hat und wenn man sich nicht repräsentiert fühlt. Das habe ich so lange erlebt, das kenne ich sehr gut. 

Diese Unterdrückung, die ich gespürt habe, hat viele Gesichter, im Iran aber auch hier. Meine Großmutter zum Beispiel war Musikerin, hatte eine Stimme und hat immer Musik geliebt, aber sie konnte nie wirklich musizieren. Ich habe durch die Musik endlich einen Weg gefunden, meine Geschichte auszudrücken, das ist so befreiend, und ich mache alles, damit andere Menschen auch diese Möglichkeit bekommen. Es gibt mir sehr, sehr viel zurück, wenn ich sehe, dass ich irgendwie hilfreich war.  
Golnar Shahyar Popfest Karlskirche 2019