Samstag, 8. August 2020

Der Wiener Oud-Spieler - Orwa Saleh Teil 1



“Macht das einen Sinn, was ich erzähle?” 

Stille.

Der Oud-Virtuose Orwa Saleh hat mir gerade erzählt, wie er 2012 mit seinem Sohn an der Hand durch das riesige Panoramafenster des Flughafens von Damaskus nach draußen blickte, während seine Frau erschöpft auf dem Sessel daneben saß. Am Horizont stiegen aus der Richtung seiner 30 km entfernten Heimatstadt Rauchsäulen auf, vor dem Gebäude warteten Flugzeuge auf die Flugerlaubnis. Auch das Flugzeug, das den Musiker mit seiner kleinen Familie über Aleppo nach Athen bringen sollte, hätte zu Mittag abheben sollen, doch der Flug war wieder und wieder verschoben worden, weil nicht klar war, ob Passagierflugzeuge noch in Europa landen durften. Es war der letzte mögliche Flug nach Europa, die EU hatte ihre Sanktionen gegen das Regime des Präsidenten Baschar al-Assad verschärft und alle anderen Fluglinien hatten schon ihre Flüge gestrichen.
  
“Ich erinnere mich, ich hatte meinen Sohn Jude bei mir, und ein Gedanke ließ mich nicht los: “Wird es das letzte Mal sein? Wird das das letzte Bild meiner Heimat in meinem Kopf bleiben?” Diese Furcht trug ich immer mit mir.  Als ich das Stück “Raheel” schrieb, weinte ich. Es war die erste Melodie, die ich in Österreich komponierte, noch vor “Refugee”. Als mein Freund Basel Rajoub kam, um es mit mir aufzunehmen, erzählte ich ihm von diesem Bild und erklärte ihm: “Das ist es, was ich fühle.” So spielte er am Saxophon das Intro zu “Raheel”, und so nahmen wir das Stück 2014 für die CD mit meinem Projekt “Ruh” auf”.  

Orwa Saleh Porgy and Bess 2019
Porgy and Bess 2019


“Macht das einen Sinn, was ich erzähle?”

Ich antworte nicht gleich, bin noch ganz in Gedanken versunkenen, versuche seine Gefühle nachzuempfinden.

“Ja, absolut. Du hast den Song mit Basma Jabr letztes Jahr für das Album “The Songs We Still Remember” noch einmal aufgenommen….”

“Mein Syrien ist verloren. 2016 kam ich noch einmal zurück, aber es ist jetzt ein komplett anderer Ort. Ich habe jeden Platz verloren, an dem ich aufgewachsen bin. Es ist ein neues Damaskus. An manches gewöhnst du dich, aber dieses Bild vom Flughafen bekomme ich nicht mehr aus dem Kopf. Daher wollte ich “Raheel” auch als Duo noch einmal spielen, weil dieses Gefühl noch immer in mir lebt. ”Raheel” heißt Departure, Abreise. Die endgültige Abreise.”

Lange Zeit war es Orwa Saleh schwer gefallen, über seine erste Zeit in Österreich zu sprechen.

“Egal wie schwer mein eigener Kampf war, es gibt immer Menschen, die viel schlimmere Situationen durchmachen müssen. Besonders in Ländern, in denen gerade Krieg ist. Daher hatte ich immer das Gefühl, dass ich nicht das Recht hätte, über diese Zeit zu erzählen. Als Künstler wirst du immer damit konfrontiert, du gibst Interviews, spielst Konzerte und wirst oft danach gefragt. Ich konnte es am Anfang nicht akzeptieren und sprach nicht darüber. Aber das Leben verändert Menschen, und es hat auch mich verändert.”

“Ich hatte keine Ahnung, was mich in Europa erwarten würde. Für mich war es immer besser in Syrien zu sterben, als irgendwo allein ein hartes Leben zu führen. Ich dachte nicht, dass ich das schaffen könnte. Es gab damals noch nicht so viele syrische Flüchtlinge hier. Es gab auch  keine Institutionen, die sich um Syrer*innen kümmerten. Jetzt weißt du, du musst um Asyl ansuchen, du bekommst etwas Unterstützung. Das wusste ich damals nicht. Als ich mit meiner Frau und Jude nach Linz kam, konnte ich überhaupt kein Deutsch, nur Englisch. Ich fand schließlich einen Job in einem Hamburger Restaurant. Meine Kollegen dort in der Küche waren einfache Leute, sie nannten mich “The Maestro English”, weil ich Musik spielte und Englisch sprach. Zuerst verstand ich nicht genug Deutsch, aber nach einer Zeit kam ich dahinter, dass die Leute dort sich über mit lustig machten. Ich erhielt aber auch jede Menge Unterstützung in Linz und fand Freunde. Deswegen nenne ich es immer noch irgendwie zu Hause.”
mit Uygar Çağlı und Bilge Kaan Kuş, Fania live 2019

Seinen ersten musikalischen Mitstreiter, den Bassisten Uygar Çağlı, lernte Orwa Saleh über Umwege kennen.

“Ich hatte einen Freund, den Saxophonisten Basel Rajoub. Ich bewunderte, was er tat, er war einer der ersten, der wirklich die alten Songs in Jazz Versionen spielte und damit in Syrien Erfolg hatte. Wir kennen uns schon lange und ich sah immer zu ihm auf. Er lebte in Genf, und als ich nach Europa kam, war er der erste, den ich kontaktierte. “Hey, ich brauch deine Unterstützung, kennst du Leute hier, mit denen ich jammen kann?” Basel erinnerte mich an den Gitarristen und Sänger Alp Bora, der in Wien lebte. Ich kannte ihn nicht persönlich, wir hatten aber einmal auf demselben Jazz Festival in Syrien gespielt und uns gegenseitig mit Musikern unserer Bands ausgeholfen,  so hatten wir indirekt Kontakt und kannten unsere Namen. Als Basel vorschlug, ich solle doch Alp Bora kontaktieren, hatte ich zuerst Angst, aber Alp war so freundlich und hilfsbereit, das werde ich nie vergessen. Er meinte, einer seiner Freunde, Uygar Cagli, sei Bassist und lebe in Linz, vielleicht könne ich ihn treffen. Er gab mir seine Nummer, wir schrieben uns, und am selben Tag noch holte mich Uygar aus meiner Wohnung ab und wir trafen uns zum ersten Mal. Ich konnte kein Deutsch, er konnte damals nicht so gut Englisch, ich habe keine Ahnung, wie wir uns verständigt haben. Aber am nächsten Tag kam ich zu ihm spielen, er hatte ein Stück von Bach, stellte die Noten hin und sagte: “Lass uns spielen!” Danach begannen wir zu komponieren, das war der Beginn des “Ruh” Projektes.”      
 
“Uygar und ich klopften an alle Bars und Cafes in Linz und fragten, ob wir dort spielen konnten. Heute wundere ich mich, warum durften wir in Bars spielen, die sonst eigentlich nur für Discomusik gedacht waren? Aber sie erlaubten uns zu spielen und Eintritt zu verlangen. Bald darauf lernte ich den Percussionisten Gerhard Reiter kennen, der voll motiviert einstieg. Wir spielten den ganzen Sommer, zuerst als Duo, dann als Trio. “Ruh” war ein cooles Projekt, ein Österreicher, ein Türke und ein Syrer. Wir machten uns einen Namen, und langsam wurden wir auch zu Konzerten und Festivals eingeladen. Wir spielten einige meiner Kompositionen und auch ein paar traditionelle Lieder. Zur selben Zeit startete ich mit Christian Wirth das “Chameleon Orchestra”, leitete Workshops und Projekte.”

Trio MIT Porgy and Bess 2019
MIT (Music in Touch) mit Christoph Cech und Andreas Scheiber, Porgy and Bess 2019

“Mein großes Ziel war, mir einen Namen zu machen und endlich meine Arbeit im Hamburger Restaurant beenden zu können. Die hasste ich wirklich. Es ist traurig, dass sogar Menschen, die selbst unfair behandelt werden, so hartherzig zu anderen sein können. Ich weiß, jeder muss kämpfen, um leben zu können, aber ich kann diese Zeit einfach nicht vergessen. Manchmal musste ich bis in die Früh arbeiten, plante nebenbei Konzerte und trat auf. Ich hatte auch schon körperliche Probleme wegen der Arbeit in der Küche, meine Hände schmerzten und die Finger waren geschwollen. Es war einfach zu viel für mich. Ich weiß noch, als ich zum ersten Mal 2013 mit dem Chameleon Orchestra in Enns auftrat: Es war ein großes Ereignis und ein Riesenerfolg, alle klatschten und machten Fotos mit mir. Ich war der syrische Kerl mit dem österreichischen Orchester, den man gesehen haben muss. Ich war so glücklich! Dann eilte ich rasch nach Hause, zog mich um, und meine Schicht in der Küche begann. Und die Leute waren wieder die üblichen Arschlöcher dort. Das war mein erstes Jahr in Österreich. Aber irgendwie gelang es mir nach einem Jahr, meinen Lebensunterhalt mit Musik zu verdienen, nicht das beste Leben, aber dieser Schritt war unglaublich  wichtig für mich.” 

Die erste Zeit in Österreich habe ihn als Mensch und als Musiker stark geprägt, erklärt Orwa weiter. 

“Nach Österreich zu kommen, war das Beste, was mir passieren konnte, glaube ich. Es gibt eine Menge Freiheiten hier. Ich habe erst lernen müssen, meine persönlichen, gesellschaftlichen und politischen Überzeugungen zu leben, das ist eine Erfahrung, die meinen Charakter geformt hat. Ich bin in Syrien in einer liberalen Familie aufgewachsen, ich glaubte an die Menschenrechte und all diese Dinge, aber ich musste diese Überzeugung nicht leben. Du bist mit diesen Fragen gar nicht konfrontiert, deine Freunde sprechen nicht darüber, niemand spricht darüber, du weißt auch nicht, wie du reagieren sollst. Aber wenn du hierher kommst, dann siehst du es, in allen Bereichen. Du siehst Leute demonstrieren, du schreibst Appelle, du demonstrierst selber.” 

“Auch musikalisch spielte das eine Rolle. Hier sah ich plötzlich Musiker*innen, die auf die Bühne gingen und ihr Ding durchzogen, die an sich selbst glaubten. Ohne Rücksicht auf die Meinungen der anderen. Syrien gab mir keinen Raum für neue Experimente. Die Gesellschaft in Syrien ist da sehr streng, die Intellektuellen sind eine kleine Community und sehr voreingenommen.” 

“Ich lernte hier auch viele Musiker*innen kennen, ganz erstaunlich Musiker*innen. Ich liebe jede und jeden von ihnen! Meine Erfahrungen mit Christoph Cech zum Beispiel haben mich buchstäblich verändert, haben mich zu dem gemacht, der ich jetzt bin. Sie gaben mir Mut, mein Instrument zu erforschen, veränderten meine Art zu schreiben.”  
 
Bühne im Hof, St. Pölten 2018

Die Beziehung zu seinem Instrument war für den sensiblen Musiker von Höhen und Tiefen geprägt, manchmal stürmisch, aber immer leidenschaftlich. Der Anfang verlief allerdings alles andere als harmonisch. 

“Ich wollte immer Gitarre lernen, hörte Rockmusik und wollte die auch spielen, aber meine Mutter bestand darauf, dass ich Oud lernte. Ich komme aus einer Mittelklasse Familie, die Mütter dachten, dass ihre Kinder alles lernen müssen, und so mussten wir Instrumente lernen. Meine beiden Schwestern lernten klassische Instrumente wie Piano und Gitarre, für meinen Bruder und mich waren klassisch orientalische Instrumente vorgesehen, Kanun und Oud. Mein Urgroßvater war der erste Kulturminister in Syrien, sein Name stand auf den Gedicht- und Literaturbüchern, der Name der Tante meines Vaters auf den Geschichtsbüchern und der des Onkels meines Vaters auf den Mathematikbüchern. Das ist die Familie, aus der ich kommen, und es wurde immer von uns allen erwartet, auch etwas Besonderes zu leisten. Aber es wurde nicht wirklich unterstützt. Du musst immer etwas beweisen, stellst hohe Erwartungen an dich selber, kannst deine Erfolge aber nicht wirklich genießen.”

“Einige Male wollte ich aufhören, aber ich blieb dabei und lernte neben der Oud auch Saxophon. Ich wurde in klassischer und klassisch arabischer Musik unterrichtet, bei einer Prüfung musste ich Vivaldis “Die vier Jahreszeiten” spielen, für Oud transkribiert. Ich hatte erstklassigen Unterricht und war auch gut, aber ich kämpfte mit meinem Instrument, weil ich mit der klassischen orientalischen Musik wenig anfangen konnte. Sie spiegelte nicht das wider, was ich fühlte.”

“Das Album “Thimar” von Anouar Brahem 1998 zeigte mir zum ersten Mal einen anderen Zugang zur Oud. Ich war wirklich erstaunt von seiner Musik. Anouar Brahem ist ein tunesischer Oud-Spieler der alten Generation. Er behielt den Charakter der Oud bei, fügte aber seinen eigenen Charakter hinzu, suchte nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten, neuen Kompositionstechniken und arbeitete mit coolen Jazzmusikern zusammen. Nach dieser musikalischen Begegnung sah ich das Instrument in einem neuen Licht.” 

“Jazz war in Syrien etwas Neues, bis jetzt haben wir keine Musikschule für Jazz in Syrien. Die Anfänge waren Jazz Festivals, die die Schweizer Botschaft gemeinsam mit anderen Organisationen veranstaltete. Es gab immer gute Musiker, die alleine gelernt haben, aber keine Jazzszene. Oud-Spieler, die Jazz spielen? Das war kein Ding in Syrien. Es gab keine wirkliche Jazzszene, von der man lernen konnte. Ich war geschockt.” 
mit Mahan Mirarab, Diana Baroni, Judith Ferstl und Gerhard Reiter, Kulturraum Neruda 2018

“Als der Krieg begann, hatte ich schon einen Universitätsabschluss, komponierte, unterrichtete an Schulen und ging mit meinen Projekten auch auf Tour, manchmal spielte ich sogar Oud und Saxophon. Mein Leben als professioneller Musiker war okay, aber wie jeder in diesem Alter und in dieser Situation war ich immer noch unsicher, immer noch auf der Suche nach Jobs. Ich glaubte immer, ich müsste alles spielen können und mich in jede Richtung verbessern, um mehr Jobs zu bekommen. Das war es, was in Österreich aufhörte, was ich endlich stoppen konnte.” 

Nach dem Ende seines Jobs im Burger-Restaurant konnte sich der Künstler endlich ganz seinen Projekten widmen, allen voran seinem Trio, dem er den Namen “Ruh” - Seele - gab.

““Ruh” blieb für lange Zeit ein Heimatprojekt für mich. Wir arbeiteten viel mit Schulen zusammen, machten Workshops. Unsere Konzerte waren fast ein politisches Statement, wir lebten Integration. Wir erreichten in relativ kurzer Zeit in Linz eine Menge und 2015 gewannen wir sogar den Integrationspreis der Stadt Linz. Das Projekt wuchs, wir hatten ein Teilprojekt “Ruh featuring a Syrian abroad” bei dem wir Syrer*innen aus der Diaspora einluden, mit uns Konzerte zu spielen: Basel Rajoub, der Geiger Maias Alyamani und dann eines Tages Basma Jabr.”

Damals konnte Orwa Saleh noch nicht ahnen, dass die Begegnung mit der in Kuwait geborenen, in Syrien aufgewachsenen und seit einiger Zeit in Wien lebenden Sängerin Basma Jabr zu einer langen und fruchtbaren musikalischen Zusammenarbeit führen und ihm einen neuen Zugang zu seiner Vergangenheit eröffnen würde.
mit Basma Jabr, Donaukanal 2019
mit Basma Jabr, Donaukanal 2019


 Ende des ersten Teils